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Tag 5
Auf der Suche
     1. Wandertag

18. Juli ´15 (Saint-Jean – Orisson, 7,7 km; bergauf!)

 

Nach meiner unfreiwillig durchzechten Nacht versuche ich nun so schnell wie möglich meine Sachen zusammenzupacken, weil ich eigentlich nicht die Letzte sein will.

Als ich meine Stöcke, die mit einem Klebeband zusammengeklebt sind, auseinander schneide, kommt ein durchtrainierter Mann auf mich zu und fragt: »Are you gonna walk?.« - Wirst du laufen?

Und ich so: »Äh, ja klar! Wie denn sonst? Anders komme ich ja nicht über den Berg.« Er war der Ansicht, dass kein Pilger so spät (immerhin war es schon acht Uhr!) noch losgehen würde, aber da hat er nicht mit dem Moppelchen gerechnet. Das sucht sich nun, nachdem es aufgesattelt hat, erst mal eine Boulangerie, eine Bäckerei, denn ohne Frühstück und Kaffee wird hier heute gar nichts laufen... nicht mal das übermotivierte Moppelchen!

 

Tja, und so befinde ich mich um circa 9.30 Uhr das erste Mal auf dem Jakobsweg - wobei ich ihn zunächst nicht wirklich finden kann ...

Völlig überladen (in doppelter Hinsicht) und wieder bereits durchgeschwitzt (und das, obwohl ich nicht mal in der Horror-Dusche war), muss ich mich bei meinem Bettnachbarn von gestern, erkundigen, wo »das Ding« denn nun sei und wie ich »es« denn jetzt erkennen würde? (Oh, ich und Wege suchen!)

Den Blick, den er mir dabei zuwirft, kann ich ihm nicht mal verwerfen. Ich muss einen Anblick liefern, der nicht gerade Pro-Jakobsweg ausstrahlt.

Aber alles egal! Ich bin auf dem Jakobsweg und habe Bomben-Laune!

Dass ich circa sechs Kilometer später japsend unter einem Baum liegen und denken würde, ich müsse sterben, davon wusste ich ja in diesem Moment noch nichts. Davon werde ich nun von Anfang an und en detail berichten:

Nachdem ich den Jakobsweg nun endlich gefunden habe, laufe ich also los und fühle mich SUPER!

Ich pfeife vor mich hin und bin total geflasht von der Natur. Die anderen Pilger, die ich treffe, begrüße ich überschwänglich und denke mir noch so: »Komisch, was dieser durchtrainierte Pilger in meiner Unterkunft hatte? Es läuft doch super! Und das Wetter ist auch spitze! Klarer, blauer Himmel. Alles gut, mein lieber sporty Pilger-Kollege, dass Moppelchen is on the road!«

Irgendwann merke ich, dass die Strecke fast nur noch bergauf geht. Zusätzlich fängt es auf einmal an zu regnen, aber ich lasse mich auch dadurch nicht aus dem Konzept bringen. Vielmehr denke ich mir: »Super! Ich wollt eh gerade Pause machen und such mir jetzt einfach ein Bäumchen, an dem ich mich unterstellen, beziehungsweise hoffentlich auch setzen kann.«

 

Und dann sitze ich beglückt unter einem Baum, mit Blick auf eine süße Esel-Familie, verrichte stolz mein erstes Pinkel-Geschäft und denke mir völlig entzückt: »Mensch, das mit dem Pilgern läuft doch!«

Ich laufe weiter und bald kommt die Sonne wieder raus. So langsam merke ich, wie mir die Hitze zu schaffen macht. Es muss so irgendwas zwischen 12 Uhr und 13 Uhr sein und da knallt die Sonne hier in Frankreich gnadenlos. Ich laufe an einem Haus vorbei, das kalte Getränke und Eis verkauft. Ich überlege: »Ja, das wäre nett, aber da kommt später sicher noch was und ein bisschen halte ich auch noch durch.«

Tja, leider kommt dann nichts mehr...

Und so wird mein Wasservorrat immer knapper und die Sonne immer erbarmungsloser.

Ich japse wie ein Hund mit Bronchitis und bin einfach nur froh, dass ich alleine laufe, weil mir diese Laute fast vor mir selber peinlich sind. Ich schleppe mich von Schattenfleck zu Schattenfleck und mache unter einem weiteren Baum Rast. Ich esse meine letzten Müsli-Power-Sportler-Riegel. Nicht, weil ich Hunger habe, sondern weil ich hoffe, dass sie mir Kraft geben für die letzten Kilometer. Weit kann es eigentlich nicht mehr sein, aber ich sehe kein Land in Sicht... nur Sonne!!!

Überall diese gnadenlose Sonne!

 

Ein sehr erfahren und sehr ausgeruht wirkendes Pilger-Pärchen kommt an meinem Rastplatz vorbei. Die Frau guckt relativ besorgt. So wie ich mich da auf den Boden geknallt habe, überlegt sie vielleicht kurz, ob ich bereits zusammengeklappt bin. Dann setzt sie der eh schon blamierenden Szene noch das Krönchen auf, indem sie sagt: »We saw you along the trail, while climbing the hill. We thought, wow, this girl has so much stuff with her!« - Wir haben dich auf der Strecke gesehen, als du den Berg hinaufgeklettert bist. Wir haben gedacht, wow, dieses Mädchen hat so viele Sachen dabei.

Weil ich diesen Spruch nun auch schon öfter gehört habe, greife ich zu einer absoluten Notlüge. Ich erfinde ein Zwei-Mann-Zelt in meinem ausgebeulten Rucksack und mache einen auf: »Ja, ich will so viel wie möglich draußen schlafen.« Ganz so erfunden ist dieser Gedanke auch nicht. Immerhin trage ich tatsächlich eine Isomatte und einen dicken Schlafsack für kalte Nächte mit mir herum. Nur das Zelt, das gibt es nicht. Immerhin habe ich es so geschafft, das Pilger-Pärchen abzuwimmeln und sie sogar ein wenig zu beeindrucken. Ist mir auch inzwischen alles egal, denn ich will hier einfach nur in Ruhe sterben!

Eigentlich sollte laut meinem Pilgerführer hier auf dem Weg auch eine Wasserstelle sein, aber von der ist weit und breit nichts zu sehen. Hinterher wird mir klar, dass ich dank meines neuen Käppis, das mir über den Augen hängt, knallhart daran vorbeigelaufen bin.

 

Ich rappel mich von meinem Rastplatz hoch und gehe der Sonne entgegen. Ich nehme den Kampf auf. Diese Strecke hat nun eine Steigung von circa 50 - 60 Prozent und das in gefühlten 40 Grad (vielleicht haben wir diese Temperatur gerade wirklich ...?). Ich laufe immer ungefähr zehn Schritte und stütze mich dann auf meine Stöcke, um in Ruhe vor mich hin zu japsen. So erklimme ich im Schritttempo den Berg und denke, das ist mein Ende. Ich werde völlig dehydriert, hier in dieser Steppe, liegen bleiben, und jemand wird mich finden und sagen: »Das war wohl nichts, kleines Moppelchen. Gehe über Start und fange nochmal von vorne an.«

Und heute Morgen habe ich mich noch so gut gefühlt und gedacht: Es läuft ja super!

Und jetzt stehe ich hier mit hochroter Birne, fantasiere und japse und habe erste Nahtod-Erscheinungen. Ich versuche, nach vorn zu blicken und mich von Schattenfleckchen zu Schattenfleckchen zu hangeln, aber viel Schatten ist hier ja nicht. Immer wieder schaue ich in mein Buch und denke: Diese verdammte Herberge muss doch jetzt kommen! Zwei andere Pilger überholen mich. Der eine von den Beiden hat seine Wasserflasche hinten am Rucksack befestigt. Sabbernd laufe ich ihnen hinterher, bringe es aber nicht über mich, nach ein bisschen Wasser zu fragen. Irgendwann verliere ich sie und mir kommt stattdessen eine Japanerin entgegen.

Ich frage sie, wie weit es noch bis zur albergue Orisson (Herberge Orisson) ist und sie antwortet: »Es ist nicht mehr weit. Vielleicht noch so ein bis zwei Kilometer.«

Meine enttäuschte Antwort: »Was, so weit noch?«, kann sie nicht verstehen. Gegen Ende meiner Pilgerreise sind ein bis zwei Kilometer auch absoluter Pipifax, aber hier an meinem ersten Lauftag frage ich mich ernsthaft, ob ich dieses Ziel heute noch lebendig erreichen werde? Die Japanerin ruft mir aufmunternd: »Buen Camino« zu und reckt dabei die Faust in die Luft. Diese zwei Worte, mit ihrer ernstgemeinten Anfeuerung, beflügeln meine letzten Reserven. Ich schaffe das, ich komme da jetzt an, denke ich und wechsle kurzzeitig vom Schritttempo ins Traben. Kurz danach scheint mich wieder alle Kraft zu verlassen, weil hinter der ersehnten Kurve immer noch nichts zu erkennen ist.

Da taucht auf einem Wassertank in riesengroßen Lettern ein Graffiti auf:

Keep on Going - Lauf weiter!

 

Ich denke, okay, dann mache ich das jetzt. Und auf einmal bin ich tatsächlich einfach da! Ich habe es dank dieser letzten Worte tatsächlich geschafft. Von da ab ist Keep on going mein Mantra, dass mich den ganzen Jakobsweg über begleitet. Ich laufe in die albergue hinein, steuere den Tresen an und kann mit letzter Kraft: »Dos botellas de agua por favor« (zwei Flaschen Wasser bitte), sagen und »ja, sehr kalt und ja, wirklich zwei!«

Ich gehe auf die atemberaubende Terrasse, setze mich an einen Tisch wo niemand sitzt und halte mir mit einer Hand die eine eiskalte Flasche in den Nacken, während ich die andere auf Ex herunterkippe.

Das ist das Beste, was ich seit langem zu mir genommen habe. Ganz langsam komme ich wieder zu mir und nehme meine Umgebung wahr. Es sind ein paar nette Pilger hier und abends, bei unserem gemeinsamen Abendessen, bestätigt sich dieser erste Eindruck. Hinterher werde ich feststellen, dass ich hier bei vino, agua und manjar (Wein, Wasser und Essen) einen der besten und lustigsten Abende auf dem Camino hatte.

Auf jeden Fall ist das hier ein sanfter Einstieg, dass man gemeinsam zu Abend isst und sich dabei kennenlernen kann.

Voller Zuversicht schlafe ich abends ein.

Dass ich am nächsten Tag ganze 18,9 Kilometer bergauf und am Ende eine lange Strecke auch bergab laufen muss, das checke ich an diesem Abend nicht.

Es ist auch egal, denn ab jetzt mache ich einfach: Keep on going!

Schließlich habe ich es bis hierhin geschafft (sogar lebendig) und dann schaffe ich es auch weiterhin. … hoffentlich! ...

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