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Tag 1
Es geht schon los?!Oh mein Gott!

Abends um 22.47 Uhr auf dem Gleis vom Hamburger Hauptbahnhof

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Wir steigen tatsächlich in den Zug. Ich kann es noch gar nicht fassen … 

1 Jahr ist vergangen und nun rollt die Karawane wieder. Oh, Entschuldigung: die BUNTE Karawane! Denn bunt und schrill sind wir ungewollt von Anfang an. Während der Abschnitt “C” schon in Reih und Glied mit akkurat gekleideten und zunächst noch wohlsituierten Fahrradfahren gepflastert ist, rollen ich und die bessere Hälfte in letzter Minute auf dem Gleis ein. Hochrot unsere Köpfe, flatternd und offen die Taschen und leicht gestresst, suchen wir nach dem Abschnitt für das Fahrradabteil. Wir waren mal wieder in letzter Minute zu Hause fertig geworden und ja natürlich war ich Schuld - ja ist ja gut, ich gebe es ja schon zu! Gut, also wo waren wir im Text ? … Ach, ja auf dem Gleis! Weil alles voll ist von den pünktlichen in Reih und Glied positionierten Radlern, gehen wir einfach noch ein Stückchen weiter nach vorn. Ich muß mich nun erneut daran gewöhnen, dass wir all eyes on us haben.

Das war letztes Jahr ja auch schon so, aber ich habe es vergessen. Ich bin auch nach wie vor am Rätseln, ob es an unserer ungewöhnlichen Aufmachung liegt (keine typischen Funktionsklamotten und auch keine Windhunde), oder ob die Leute uns vielleicht insgeheim feiern? (Yeah, man muss ja gar nicht Tour de France mäßig “verkleidet” sein und auch keine typische Radlerfigur haben. Man darf einfach so losfahren.) 

Ich weiß es nach wie vor nicht. Aber ich weiß, dass es mir mit jedem gefahrenen Kilometer total unwichtig ist! Ich schwitze, ich kämpfe, ich verzweifle und ich siege, wie jeder andere  Fahrradfahrer über die- und mit der Etappe. Am Ende eines erfolgreich geschafften Radfahrtags sind wir doch alle gleich!

Als der Zug dann einfährt kommt das Fahrradabteil direkt vor unseren Füßen zum Stoppen. Wir befinden uns damit, obwohl wir als letzte angerollt sind, in der front row. Vielleicht erbost das die anderen Fahrradfahrer so sehr, denn was jetzt kommt, können wir uns ansonsten nicht erklären: Wir werden mehrfach bezichtigt keine Fahrradreservierung zu haben. Hä, was haben die denn alle? Irgendwann wird der aggressive “Fahrradmob” immer hektischer und lauter und rangiert wild zeternd sehr umständlich die Fahrräder. Es handelt sich bei diesen Herrschaften übrigens um eine E-Bike-Gang.

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Zu der besseren Hälfte und mir schwappt irgendwann rüber, dass wir falsche Fahrradstellplätze eingenommen haben. Ja, klar. Wir sind erstmal rein und haben die Räder irgendwo hingestellt, wo sie die anderen nicht beim Einsteigen blockieren. Die Wortführerin aus dem Mob fängt jetzt richtig an aufzudrehen. (Bereits nach wenigen Minuten hat sie sich bei uns im Stillen schon den Namen “Oberhenne” verdient.) Langsam platzt mir nun aber auch der Kragen, in diesem ganzen Gestresse, Gezeter aus Reservierung und Fahrradstellplätzen und falsch, und und und. Ich werfe lauthals zurück, dass es doch völlig egal ist, wo wir uns hinstellen, Hauptsache jedes Fahrrad hat einen Platz. Es wollen auch immer noch Fahrradfahrer einsteigen, doch die Oberhenne blockiert alles. Nachdem sie dann kapiert hat, dass wir ganz normal gebuchte Plätze haben und nicht schwarzfahren, knickt sie ein. Kleinlaut nehmen sie und ihr Partner unsere Plätze, die restlichen Fahrradfahrer steigen ein und der Zug rollt endlich los. Wir müssen irgendwann lachen, denn der Start war einfach schon wieder zu absurd. Aber gleichzeitig sind wir auch ein bisschen verwirrt und geknickt von dieser Boshaftigkeit. Sollten Fahrradfahrer nicht tendenziell miteinander solidarisieren? Haben wir es denn nicht schon schwer genug auf den Straßen im Kampf mit den Autos und den teilweise orientierungslos herumlaufenden Fussgängern?! Im Abteil mit den Aggro-Radlern wollen wir nicht mehr sitzen und so machen wir es uns im Fahrradabteil gemütlich. Sogar sehr gemütlich, denn wir holen die Isomatten raus und bauen uns dort einfach ein kleines Lager auf. Kurz hege ich noch den Gedanken einfach gleich das ganze Zelt aufzubauen, denn Platz ist hier wirklich genügend, aber mein Gefährte winkt ab.

Besser so, denn nach einiger Zeit kommt ein Schaffner, der sich grosse Sorgen um die Fluchtwege macht. So wie wir liegen, blockieren wir diese anscheinend. Da wir direkt unter unseren hoch gehängten Fahrrädern liegen, verstehen wir nicht was er meint. Für ein paar Stunden können wir ihn besänftigen und er lässt uns in Ruhe. Ich dimme auf meiner Isomatte sogar zeitweise weg, während die bessere Hälfte kein Augen zu bekommt. Irgendwann steht der Schaffner wieder vor uns und versucht uns zu erklären, dass der Zug jetzt so lange hält, bis wir nun ENDLICH die FLUCHTWEGE frei machen! Tatsächlich stoppt der Zug gerade, allerdings hatte der Schaffner kurz vorher durchgegeben, dass es sich um einen Baustellen-Stopp hielt. Das Ganze ist uns inzwischen sowieso zu blöd und wir räumen genervt unser Lager.

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Wer hier flüchten muss, ist uns sowieso schleierhaft. Wobei, so langsam würden wir das gerne tun, denn es stinkt bestialisch nach Kloake. Sogar der Fluchtweg-Schaffner muss das zugeben. Als wir um 5 Uhr morgens endlich aus dem Zug aussteigen, haben wir wieder einiges gelernt. Den Deutschen ist ihre Reservierung wirklich heilig. Sie lieben ihre Vorschriften und halten an komischen Fluchtweg-Regeln unbeirrbar fest. Und uns stinkt das ganze gewaltig - so wie das überschwappende Klo im ICE.Aber wir wollen uns nicht aufhalten mit dieser negativen Scheiße (im wahrsten Sinne des Wortes :-) ) und freuen uns nun einfach den Rhein nach einem Jahr endlich wiederzusehen. Ein Mann weist uns den WEG: "Ja, das ist gleich da runter. Einfach immer geradeaus, dann landet ihr direkt drinnen." Wir freuen uns über diesen freundlichen und endlich mal normal scheinenden Menschen. Und tatsächlich sind wir nach 3 Minuten da. Am Rhein, unserem alten Bekannten. Es ist soooo wundervoll und wir fühlen uns wie kleine Kinder an Weihnachten. Die Vögel zwitschern, es ist herrlich kühl und wir sind ganz allein. Wow, dieser Moment ist einfach magisch für uns. Wortlos grinsen wir uns immer wieder an und rollen selig schweigend über den traumhaften Weg am Rhein entlang. Wir haben keine Worte hierfür. Es ist und bleibt eine unglaubliche Magie, ein Zauber, oder auch ein Wunder, was wir an diesem Morgen erleben, der langsam mit uns zusammen zu beginnen scheint.

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Von Koblenz nach St. Goar (ca. 35 km)

Fast schon macht es den Eindruck, dass wir am Meer sind, denn es gibt immer wieder einsame, verwilderte Abschnitte mit einem richtigen Sandufer. Eigentlich könnten wir jetzt auch in Italien sein, so weit weg fühlen wir uns hier. Wobei, ne, eigentlich fühlen wir uns noch mehr wie in einem Traumland, in dem wir die einzigen Bewohner sind, denn wir treffen keine einzige Menschenseele. Der Weg bleibt eine Traumstrecke - kilometerlang.

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Wir machen in einem verschlafenem Dorf noch einen kleinen Pitstop bei einem Krämerladen aus einer anderen Zeit und kommen uns vor wie in einer Szene aus der Serie “Mord mit Aussicht”. Auch der Camembert scheint aus einer anderen Zeit zu stammen: Er ist abgelaufen und bereits ungenießbar. Um 12 Uhr stranden wir in St. Goar (klingt fast so wie Goa in Indien, ne?!) und sind am Ende unserer Kräfte. Die durchzechte Nacht steckt uns noch zu sehr in den Knochen und so bauen wir hier nun unser Zelt auf einem schönen Campingplatz auf. Völlig erledigt fallen wir nach diesen 35 km in einen traumlosen Schlaf und dümpeln den ganzen Tag vor uns hin. Es ist herrlich und das Fahrradtour-Fieber hat mich schon wieder voll erwischt. Das die bessere Hälfte mitten in der Nacht Kotzeritis kriegt und ich mir grosse Sorgen machen werde, davon ahne ich um 20. 00 Uhr nicht mal ansatzweise etwas. Stattdessen schlummere ich noch vor der Primetime selig grinsend in unserem grünen Zirkuszelt ein.

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