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Tag 6
Die Stadt in grau

Hermannsburg - Uetze (ca. 50 km)

 

Heute früh schaffen wir zum Glück den Absprung aus dem Paradies. Mit Hilfe des Weckers werden wir um 7.00 Uhr aus den wohligen Federn geschüttelt. In aller Ruhe und mit feinster Jazz-Musik aus dem Radio, frühstücken wir unser kohlenhydratreiches Müsli mit Früchten. Die bessere Hälfte achtet zum Glück seit dem ersten Fehlstart in Lüneburg nun akribisch darauf eine Basis im Magen zu haben, damit es nicht wieder zu derartigen Ausfällen kommt. In angenehm kühlen 13,5 Grad beladen wir die Räder vor der Haustür. Diese Kühle ist ein Traum und wenn das so bleiben würde, wäre das natürlich der absolute Wahnsinn! ... Allerdings haben uns die letzten Tage eher das Gegenteil bewiesen, denn das Thermometer stieg zur Mittagszeit fast um das Dreifache. Aber ich kann nicht nur gut träumen und mir etwas wünschen, ich bin auch eine unerschütterliche Optimistin, so dass meine Hoffnung nie stirbt. Schnell wollen wir nun los, um in den Genuss der angenehmen Temperaturen zu kommen.

Unsere Freundin tapert verschlafen, barfuß und noch im Schlafanzug vor die Tür. Schnell wird sie ein wenig wacher, weil sie so begeistert ist, wie schnell wir alles auf die Räder bekommen haben. Ja, es ist ein wirklich ein tolles Gefühl, unser ganzes Hab und Gut auf den Rädern zu transportieren - also praktisch am Körper zu tragen. Das war schon damals auf dem Jakobsweg ein sehr befreiendes und tolles Gefühl. Happy mit unserem Schnecken-Dasein, rollen wir thematisch passend im Schneckentempo vom Hof. Nostalgisch winkt uns unsere Freundin hinterher und sagt zum Abschied nochmal, wie toll sie diese Reise findet - vor allem auch das wir sie spontan zusammen angetreten sind. Das gibt unendlich viel Ansporn ... und macht auch stolz! Kein Wunder also, was dann passiert. Angestachelt, gut ausgeschlafen und wohlgenährt legen wir unsere bisherige Rekordzeit hin: 25 km in 1,5 Stunden (mit unserem schweren Gepäck). Und schon sind wir in Celle. Wow! So könnte es jetzt gut weitergehen, doch leider müssen wir dort einen Stopp einlegen, weil wir ein paar Sachen besorgen müssen. Wir brauchen etwas von der Apotheke, der Drogerie, müssen zu einem Outdoorladen und einem Fahrradgeschäft.

 

 

In der "main City Celle" finden wir all diese Läden und so müssen wir notgedrungen in die Vollbremsung gehen. Ach, schade! Wir hatten gerade so einen drive und so Lust zu fahren ... In der "City" herrscht zu allem Überfluss auch noch von Anfang an big trouble, denn es gibt Straßenmusik, viele Leute, überfüllte Cafés und kaum Platz für uns und unsere Fahrräder. Eingequetscht bei einem Bäcker, sitzen wir da und beobachten das unruhige Kommen und Gehen. Entgegen meiner Natur des genussvollen Beobachten, fühle ich mich von Anfang an erschlagen von den ganzen Sinneseindrücken. Es ist zu laut, zu eng und zu viel - von allem. Der ganze Asphalt, die vielen Häuser, die schlechte Luft, all das bringt uns aus der Ruhe. Wir haben uns in diesen wenigen Tagen schon so sehr an die Natur, die Felder, die Bäume und die Weite gewöhnt, dass wir hier gar nicht mehr klarkommen. Schnell versuchen wir die Erledigungen abzuhaken, weil wir hier wegwollen. Die Apotheke, Drogerie und den Fahrradladen haken wir schnell ab. Dann kommt der Outdoorladen an die Reihe. Hier geht es leider nicht so schnell wie erhofft, denn wir überlegen uns ein neues Zelt zuzulegen. Unser jetziges hat so gut wie keine Belüftung und das ist in dieser Hitze kaum zu ertragen. Wir sind begeistert von der Auswahl an Zelten. Unsere Begeisterung hält so lange an bis wir die Preise hören: Ab 300€ aufwärts. Tja, an so was hatten wir eher nicht so ganz gedacht ...

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Wir verabschieden uns von einem neuen Zelt und testen nun Isomatten, weil die bessere Hälfte bisher auf dem nackten Boden schläft. Die Verkäuferin kommt zur Beratung dazu. Sie sagt: "Na, für dich würde ich eher nicht so S und M anpeilen, sondern eher L, oder XL." Die bessere Hälfte antwortet ganz cool: "Ja, ich bin nicht so der S, oder M-Typ, ne?!" Wie er das so selbstbewusst raushaut, bin ich richtig stolz auf ihn. Die Verkäuferin ist ab da auch ein wenig zahmer, denn schon beim Zelt hatte sie ganz flott verkündet, dass wir ein 3-Mann-Zelt nehmen sollten, "weil ihr ja nicht so die Heringe seid." Aber wie gesagt die andere Hälfte regelt das hervorragend, von daher halte ich mich ausnahmsweise im Hintergrund. Hinterher wird mir bewusst, dass die Verkäuferin eigentlich auch kein wirklicher Hering war, aber das nur am Rande. Vielleicht hat sie auch mit uns sympathisiert und es ist anders rübergekommen. Man weiß es nicht, außer man fragt! Ich teste noch ein paar Daunenschlafsäcke, weil ich nur einen dünnen Baumwollschlafsack mitgenommen habe und ein bisschen Angst vor den kühlen Nächten habe. Die Verkäuferin macht nun immer größere Augen, dass der eine von uns ohne Isomatte schläft und die andere ohne Schlafsack. Schon beim Reinkommen wurden unsere Fahrräder vom sportlichen Personal beäugt, aber die bessere Hälfte und ich strahlen einfach völlige Selbstverständlichkeit aus. Wir sind die underdogs unter der eingeschworenen Outdoor-Community. Aber egal. Wir haben es immerhin bis hierhin geschafft - und das ist alles was zählt! Weil sowohl die Isomatte, als auch der Schlafsack nichts ist, kommen wir nun auf die Idee uns sogenannte Leicht-Hängematten zuzulegen. Das Modell was wir uns aussuchen hat nur leider keine Aufhängung mehr. Wir versuchen eine Filiale des Outdoorladens zu finden, an der wir vorbeifahren. Die Verkäuferin empfiehlt uns über Google Maps zu recherchieren, fragt dann aber schnell, mit weit aufgerissenen Augen: "oder habt ihr auch keine Handys?" Jetzt müssen wir schmunzeln. Wir merken, dass sie uns gar nicht einschätzen kann, bzw. für absolut minimalistisch hält. Hinterher müssen wir noch lange schallend lachen, bei dem Gedanken was sich der Laden jetzt wohl über uns erzählt. (Wir haben während unseres Einkaufs unsere Wasserbeutel aufgefüllt bekommen, durften die Toilette benutzen und hatten die gesamte Crew als Zuschauer beim Aufsatteln und Wegfahren dabei.) Also, eventuell haben wir da gerade eben den berühmten Rahmen gesprengt, aber mir ist mal wieder bewusst geworden, dass es nicht schlimm ist, wenn man (noch) kein Profi ist. Man darf und soll dort zeigen: "Ja, ich mache Outdoor, auch wenn ich auf den ersten Blick nicht so aussehe." Ich finde das wir uns von diesen klassischen Stereotypen lösen müssen! Wir sollten alle mehr wagen und mutiger sein. Jeder auf seine Art und Weise. Manche auf sichtbare Weise. Manche auf unsichtbare Weise. Aber letztendlich doch jeder auf SEINE Weise. Und meine Weise ist nicht immer einfach, aber ich muss euch sagen, mit diesem Gefährten an meiner Seite ist es zum Glück ein ganzes Stück leichter. Wir sind zu zweit und fühlen uns zusammen unaufhaltbar und unendlich stark. Wir zweifeln keine Sekunde an dieser Reise und unserem neu gewonnenem Outdoor-Dasein. Und wenn doch einmal etwas schiefgeht, lachen wir es weg bis uns die Bäuche wehtun und die Tränen aus den Augen fließen. Und das ist das schönste Geschenk, was mir hier auf dieser Reise passieren konnte.

Passend dazu checken wir abends auf einem Campingplatz bei einem Moppelchen ein. Sie befragt uns mit leuchtenden Augen nach unserer Tour und erzählt dann ein wenig wehmütig, dass sie schon seit einigen Jahren den Jakobsweg laufen möchte. Jetzt bin ich natürlich angeknipst. Ich schwärme ihr davon vor und sage, dass sie das unbedingt jetzt gleich machen soll - oder meinetwegen auch erst morgen. Ich bekräftige sie mit allen Mitteln und Argumenten, dazu diesen Schritt zu wagen. Sie wirkt erleichtert und ein wenig sicherer in diesem Vorhaben. Danach schenkt sie uns jeder eine eiskalte 0,5 l-Wasserflasche und macht uns damit das größte Geschenk dieses Tages. Diese "Kleinigkeiten" sind einfach etwas ganz besonderes hier auf der Tour. Nachdenklich überlege ich, wie gerne ich andere Moppelchen davon überzeugen würde auf Tour zu gehen. Das könnte ich den ganzen Tag machen!!! Schade, dass es hier nicht noch mehr von unserer Sorte gibt ... ich habe mich gerade erst lauwarm geredet. Mit dem eiskalten Wasser kann ich mich zum Glück wieder ein bisschen beruhigen und widme mich schon ein wenig besänftigter unserem kargen Abendbrot (es gibt nur noch ein paar Nüsse, ein altes Brot und halb geschmolzenen Käse - aber selbst das schmeckt). Danach geht's für mich unter die Dusche, während die bessere Hälfte schon fleißig das Zelt aufbaut. Was für ein interessanter Tag das wieder heute war. Ich fühle mich 1- 2 Zentimeter größer, als heute morgen, denn ich habe mich erfolgreich in der Outdoor-Welt behauptet. Mal gucken welche Herausforderung morgen auf mich warten.

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... und darauf wird nun mit unserem eisgekühlten Wasser angestoßen. What a day!!!

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