Tag 1
Es geht los- Endlich!
Anstatt um 8.00 Uhr loszukommen, wie es ursprünglich geplant war, kommen wir erst um 11.00 Uhr ins Rollen (mit unseren Rädern ;-) ). ... Ja, ich bin Schuld, ich gebe es ja zu! Packen, duschen, Geschirr waschen, durchdrehen. Das war so in etwa die Reihenfolge. Die ersten Meter sind total ungewöhnlich: "Was, dieses schwer zu lenkende, voll bepackte Ungestüm, soll mein Fahrrad sein? Und damit soll ich jetzt an die 800 km fahren? Das halte ich nicht mal bis zur nächsten Ampel durch!" Das waren noch die harmlosesten Gedanken. Das Schlimmste überhaupt ist aber, dass ich mich aufgrund der vielen Taschen am Lenker und sowieso überall, nur mit Ach und Krach noch auf meinen Sattel drücken kann. Zunächst sehr peinlich bei jedem Auf- und Abstieg. Aber was soll's - da muss ich jetzt eben durch (und die Taschen auch ... :-) ). Also, irgendwie reinquetschen und weiterrollen, das ist heute meine Devise.
Habe ich es erstmal auf meinen Sattel geschafft, kann mich keiner mehr halten - der Karren rollt! ... Wobei das erste Café dann schon, denn schließlich ging es heute Morgen ohne Frühstück los und das geht ja nicht. Also gibt es nach den ersten 5,2 km schon eine Pause, beziehungsweise den ersten Stopp - na, das kann ja heiter werden! Und es kommt noch heiterer, denn wir verweilen dort (ungeplant - und eigentlich auch ungewollt) anderthalb Stunden. Mit unserer Jazz-Musik aus der Lautsprecher-Box am Lenker, dem guten Kaffee, den leckeren Snacks und unserem Kumpel, der uns eigentlich auf den ersten Kilometern begleiten will, vergessen wir völlig die Zeit und feiern unsere Reise (wir sind immer noch 3 km Luftlinie von Zuhause entfernt - tja was so ein paar Meter weiter weg schon alles bewirken können).
Es gibt erste Interessierte an unseren beladenen Rädern und wir kommen uns bereits wie richtig ernst zu nehmende Traveller vor. Ja, ich glaube ein wenig übemotiviert ist hier das richtige Wort. Irgendwann, wer hätte das noch gedacht, geht es dann gegen 13.30 Uhr tatsächlich weiter.
Wir rollen aufgedreht und nun wirklich völlig übermotiviert durch den alten Elbtunnel, beschallen auch diesen mit unserer Jazz-Musik und verscheuchen laut klingelnd Fußgänger, die im Weg stehen (ich sage ja übermotiviert!). Es ist herrlich kühl und eben hier unten und so könnte es nun ewig weitergehen. Auf der anderen Seite sieht das dann schon wieder ganz anders aus: Oben angekommen, knallt die Sonne - und zwar gnadenlos! Wir versuchen unsere heutige Etappe in unsere Fahrrad-App einzugeben, während unser Kumpel mit den Hufen scharrt. Er wartet nach wie vor auf die "richtige Fahrradtour". Denn weit sind wir nach wie vor noch nicht gekommen. Als wir endlich alles eingestellt haben, kommt schon der nächste Stopp. Die bessere Hälfte versucht ein Stück Pappe in die Tasche zu stopfen, in der die Gas-Kartusche bisher der prallen Sonne ausgeliefert ist. Jetzt stoppt sogar unser Kumpel und sagt, dass wir damit echt vorsichtig sein müssen. Das Ding muss an einen anderen Ort - weg von der Sonne. Ja, und wer soll das Ganze dann an sich nehmen? Das Moppelchen! Ja, ja, meine Fahrradtaschen sind viel besser und schützen einfach mehr. Hauptsache weg damit, vom eigenen Körper, ist schon klar :-) . Aber egal, ich will heute auch noch irgendwo ankommen, also verstaue ich das Ding hinten in meiner Fahrradtasche. Wenn die Ladung hochgeht, dann fetzt es mir "nur" meine rechte Seite vom Hinterteil weg. Zum Glück bin ich ja aber im hinteren Bereich "ziemlich gut ausgestattet", von daher müsste meine andere Hälfte eigentlich für alles weitere ausreichen. Trotzdem fahre ich anfangs mit einem mulmigen Gefühl durch die Gegend.
Bei der nächsten rasanten Abfahrt ist dann aber schon wieder alles vergessen. Johlend, freudig erregt und nach wie vor überdreht, fliegen wir über die Fahrradwege Richtung Wilhelmsburg und Harburg. Wir können unser Glück kaum fassen. Was dann, an diesem ersten Tag, die nächsten 62 km passiert, kann ich aufgrund der Fülle nur in Steno-Form wiedergeben, weil es hier ansonsten den Rahmen sprengt:
Rot leuchtend (Kopf) und gelb blinkend (Helm) rassel ich in einen Schulausflug - die Kinder zeigen auf mich und sagen: "Ich kenne sie irgendwie" - es ist tatsächlich meine alte Klasse, nebst meinen alten Arbeitskollegen - ich versuche die Sache klein zu halten, schon alleine wegen meines Zustands (brauche ich nichts zu sagen, oder?) - nachdem ich meinen gelben Fahrradhelm lüfte, erkennt mich aber der ganze Trupp - was soll's, dann wird eben nochmal kurz gedrückt und gegrüßt - die erste Pinkelpause in freier Natur findet aus Versehen in unmittelbarer Nähe eines Mannes statt - auf einem abgelegenem Parkplatz war ich davon ausgegangen, dass alle Autos ohne Besitzer parken - dem war leider nicht so ... - ein Edeka direkt auf unserem Weg hydriert und kaloriert uns mit eiskaltem Wasser und einer Wassermelone wieder auf - während uns der Saft der Melone vor lauter Gier über Gesicht und Kleidung läuft, werden wir von 2 Mädchen beobachtet - zu spannend was diese "Freaks" hier mitten im Nowhere treiben - verstehen wir auch irgendwie - nach einer langen weiteren Weile auf unseren Bikes, sehnen wir uns erneut nach einem Supermarkt- wir erkundigen uns bei einer Frau, die wir auf der Straße entdecken - sie nimmt uns jegliche Illusion: Der nächste Supermarkt ist noch mindestens 10 km entfernt - eine Tankstelle oder ähnliches gibt es auch nicht - sie fragt uns was wir denn bräuchten - wir antworten im Chor: Laktosefreie Milch - sie nimmt uns mit zu sich auf ihre Terrasse - unseren Wunsch findet sie zum totlachen und versorgt uns munter mit der kalten Flüssigkeit - durchgeschwitzt und bereits relativ im Arsch erfahren wir hier um 19 Uhr, dass es noch 28 km zu unserem Ziel sind - na, das wird wohl eine Nachtschicht! - relativ geknickt versuchen wir unseren Unmut zu überspielen - der Ehemann, der Sohn und die Frau kaufen uns das aber anscheinend nicht ab, denn wir werden von allen Dreien ungläubig begafft ("Wieso fahrt ihr bei dieser Hitze Fahrrad? Und wieso wisst ihr nicht mal, wie weit der Weg noch ist?", scheinen ihre Augen verdattert zu fragen). Aufgetankt mit Calcium trotzen wir den wenig rosigen Prognosen mit ein wenig Naivität: "Ach das werden wir schon schaffen!!" Nach den ersten 10 km sind wir uns dann nicht mehr so sicher ...
... gegen 20.00 Uhr stranden wir erneut völlig fix und foxi in einem verlassenen Wald, wo wir immerhin eine Bank finden, auf der wir ungelenk unsere strapazierten Gliedmaßen ausruhen können (vor allem mein, bisher ganz gebliebenes, Hinterteil schmerzt ... und meine Handballen ... und meine Füße ... und ... ach, egal!). Wie schön wäre es, jetzt schon am Ziel zu sein. Leider befindet sich dieses noch in 18 km Entfernung. Vor mich hin nuschelnd überlege ich, wie es wäre, hier einfach das Zelt aufzuschlagen, verwerfe diesen Gedanken aber schnell, weil unsere Freundin Maria (und ihre Dusche!) am Ziel auf uns wartet.
Ich schwinge mich auf mein schmerzendes Hinterteil (immerhin ist es nicht explodiert! :-) ) und jammere und fluche mit den Anstiegen, die nun auch noch kommen, um die Wette. Irgendwann bin ich kurz vorm Heulen und Aufgeben - aber vor allem am Schieben!
Mit Hilfe von James Brown, der nun volle Pulle aufgedreht wird, schaffen wir es irgendwie - wie weiß ich bis heute nicht. Um 22.43 Uhr landen wir völlig dehydriert und leicht hysterisch auf Marias Couch. Die Gute wartet mit den köstlichsten Kaltgetränken und einem selbstgemachten veganen Ananas-Eis auf uns. Unter ihrer Dusche singe ich dann das dreifache Halleluja. 70 km an Tag 1. Wer hätte das gedacht? Am wenigsten wohl ich selbst ...
Und nun bleibt nur noch eine Frage: Wie soll ich es bloß morgen wieder auf den Sattel schaffen?