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Tag 1
Die endlose Anreise

15. Juli'15 (Hamburg - Bordeaux, 1507 km)


 

Eine nicht enden wollende Anreise liegt noch vor mir. Seit sieben Uhr morgens bin ich nun schon unterwegs. Und das, obwohl ich erst um vier Uhr morgens ins Bett gegangen bin. Bis in die frühen Morgenstunden habe ich versucht, alle Sachen irgendwie in meinen Rucksack zu bekommen. Völlig zerschlagen und groggy schleiche ich durch die Bahnhöfe und dann endlich auch durch die riesengroße Flughafenhalle in München. Unvorstellbar, dass ich in circa 24 Stunden körperliche Höchstleistung bringen soll. Ich laufe schon in meiner Wanderkluft umher, damit auch jeder sieht, was ich vorhabe. Um das Ganze zu verstärken, esse ich Energieriegel für Sportler - völlig bescheuert, aber ich fühle mich gut damit, also einfach weitermachen! Keiner der hier Anwesenden ahnt, was ich plane. Ich freue mich riesig darauf, dass ich bald nicht mehr der unterschätzte Jakobsweg-Underdog sein werde, sondern eine ernst zunehmende Camino-Mitstreiterin. Bei einem erneuten herzhaften Biss in meinen Erdnuss-Eiweiß-Riegel träume ich davon, wie fit und sportlich ich wohl bald sein werde.

In einer Wolke aus Schlafentzug und völliger Übermotivation steige ich ins Flugzeug und behaupte (innerlich), hier definitiv diejenige zu sein, der die aufregendste Reise bevorsteht.

Die Anderen machen bestimmt nur »Touri-Luschen-Urlaub« und ich bin die einzige »Hardcore-Trekkerin« hier, denke ich.

Bevor es allerdings mit Hardcore losgeht, freue ich mich still und heimlich heute noch einmal in einem Drei-Sterne-Luxusbett zu nächtigen. Hardcore kommt dann danach.


 

Schon beim Einsteigen ins Flugzeug falle ich auf. Mein Handy bimmelt während ich meinen Platz suche. Eine Freundin ist dran, mit der ich unbedingt nochmal reden wollte, bevor es losgeht. Ich freue mich und setze mich erst mal irgendwo hin, damit die anderen Passagiere durchkommen.

Dieses Irgendwo befindet sich dummerweise in der ersten Klasse, worauf eine Stewardess mich freundlich aber bestimmt hinweist und dafür das Ticket sehen möchte. Peinlich!

In diesem Billigflieger ist die erste Klasse irgendwie anders gekennzeichnet - genau genommen eigentlich gar nicht. Die breiteren gemütlichen Ledersessel haben aber scheinbar dennoch eine magische Anziehungskraft – zumindest auf mich.

Mit einem Ohr nach wie vor am Handy, versuche ich der Stewardess auf Englisch zu vermitteln, dass ich jetzt meinen richtigen Platz suchen werde. Auf Deutsch wende ich mich dann wieder an meine Freundin, die immer noch an meinem Ohr klebt und mir Storys erzählt, die nicht aufhören wollen. Irgendwann nutze ich eine der seltenen Atempausen und versuche ihr deutlich zu machen, dass ich nun wirklich auflegen muss.

Ich steuere also, nach diesem etwas holprigen Start, meinen richtigen Platz an und lande auch hier wieder einen Volltreffer: Wer darf sich in einer Dreierreihe ZWISCHEN zwei Männer, einer davon auch noch gut aussehend, setzen?

Genau, 100 Punkte: Die angehende Full-size-Pilgerin (Pilgerin in voller Größe)!

Das Erlebnis, als Curvy-Passagierin irgendwo auf einen Platz zu deuten und sich da dann noch reinquetschen zu müssen, ist auf meiner Beliebtheitsskala auch ganz weit oben. Aber egal, ich sitze und der Flieger hebt ab. Da müssen die Jungs jetzt eben durch - und ich auch!


 

Während des Fluges tauche ich ab in Tagträumereien und schwelge in größter Vorfreude auf meine bevorstehende Reise.

Ich würde mir am liebsten ein Plakat umhängen, auf dem steht: »Ja, ich werde den Jakobsweg laufen! Ja, ich! Ganz allein. Und ja, den GANZEN Camino Francés!«

Nach meinen wilden Gedankengängen, beruhigt sich mein Kopf allmählich wieder und ich versuche mich daran zu erinnern, wie es überhaupt zu dieser Abenteuerreise gekommen ist.

Eine Pilgerreise… mit Übergepäck an Bord…

»Muss das sein?«, schienen ein paar ungläubige Augen im Vorfeld zu fragen.

»Warum denn nicht?!« Mein Lebensmotto, das mir eigentlich in allen Lebenslagen half, reichte den meisten nicht ganz als Erklärung. Aber ja, ich musste auch zugeben, dass es bereits im Vorfeld eine Anstifterin, oder soll ich sagen Brandstifterin, gab, die mir ordentlich Brennspiritus in meine eh schon lodernde Abenteuerlust goss: Cheryl Strayed, die Autorin des wahnsinnig guten Buches »Der große Trip - Wild«.

Eine Frau, die keine Vorkenntnisse beim Wandern hatte, kämpfte sich drei Monate allein in der Wildnis durch und erlebte damit eine »innere und äußere Reise« - das beeindruckte mich sehr. Sie beschrieb dieses Abenteuer so ehrlich und detailliert, dass ich auch so eins erleben wollte. Die Idee einer Pilgerreise war geboren. Übermotiviert, bis in die letzte Haarspitze, biss ich mich an dieser Idee fest (und beißen kann ich eigentlich ganz  gut). Amerika und der Pacific Crest Trail waren mir allerdings ein bisschen zu weit. Außerdem musste ich ehrlicherweise zugeben, ein kleiner Schisser zu sein (ganz allein in der Wildnis campen? Hilfe!). Ich brauchte also ein anderes Ziel. Kurz danach hielt ich wie durch Zufall oder auch göttliche Fügung Hape Kerkelings geniales Buch »Ich bin dann mal weg« in den Händen. Die Geschichte einer »untrainierten … Couch-Potato ...«(Quellenangabe?), wie er darin so schön beschreibt, die sich einfach aufmachte und so viel wagte, spendete dann die berühmte Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Also entschied ich mich – Hape und seinen bildhaften Schilderungen sei Dank - für eine mir machbar erscheinende Pilgerreise: den Camino Francés, den bekanntesten aller Jakobswege. Mit vielen Menschen und vielen Unterkünften. »Danke dem Herrn«, müssen auch meine Eltern gedacht haben.

Und nun? Nun sitze ich tatsächlich im Flugzeug, unterwegs in das sagenumwobene Saint-Jean-Pied-de-Port, in dem alles losgehen soll. Es ist so schön, dass ich es selbst kaum glauben kann. Und da fällt mir einer der besten Ratschläge ein, den mir meine Freundin vorhin am Telefon noch mit auf den Weg gegeben hat. Ich wollte ihre genaue Adresse wissen, doch sie meinte nur: »Scheiß auf Postkarten schreiben, Jana! Denk jetzt mal nur an Dich. Das ist Deine Reise.« Und recht hat sie!

Ich bin mal wieder in meinen alten Mustern unterwegs und denke zuerst an die Anderen und zuletzt an mich. Also zuallerletzt – irgendwann ...

Und genau das ist eines der Dinge, denen ich dringend auf den Grund gehen will.

Diese Reise ist der Anfang von etwas Neuem. Das hier ich tu ich wirklich nur für mich und für sonst niemanden. Ich bin seit langem mal wieder alleine unterwegs und möchte endlich wieder durch diese dicke Schicht, durch meinen Schutzpanzer, vorstoßen und mein zartes ICH sehen.

Ich erinnere mich auch an die wohlwollenden Worte meiner Tante zum Abschied: »Du bist so mutig! Viele haben Träume und Wünsche, aber du, du machst es einfach!« Danke, liebe Tante! Die Worte gingen mir durch und durch und motivieren mich jetzt ungemein. Und recht hat auch sie! Ja, ich traue mich jetzt einfach. Und mit der bevorstehenden Landung erlaube ich mir endlich, wieder mich selbst zu suchen, meinen Kern, mein wahres Wesen. Die einzigartige, tolle Jana – innen & außen!

Also: »Buen Camino! Vamos!« - Einen guten Weg! Los geht's! Auf zu MEINER Reise!

Zu mir, zu mir, zu mir. ICH, ICH, ICH – auf zu meinem gesunden Ego-Trip!

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